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Es handelte sich um eine ganz normale Tür. Weiß lackiert, mit glänzender Messingklinke. Nichts Besonderes. Sie wurde geöffnet und geschlossen, wie man eine Tür eben öffnet und schließt. Ansonsten schenkte man ihr keine Beachtung.

Normalerweise.

Das änderte sich schlagartig mit Anbruch des 22. Dezember 1963. Ich stand morgens auf, wollte ins Wohnzimmer gehen - und fand die Tür verschlossen.
Ich rüttelte an der Klinke. Vergebens.
„Du kannst dort für einige Tage nicht hinein“, erklärte meine Mutter den merkwürdigen Zustand. „Das Christkind ist drin und bereitet alles für den Weihnachtsabend vor. Dabei darf es keinesfalls gestört werden.“
Von diesem Moment an wurde die normalerweise unscheinbare Tür zu einer Attraktion, stellte sie doch eine schier unüberwindbare Barriere dar zwischen mir und d e m Ereignis des Jahres: dem Aufenthalt des Christkinds in unserer Wohnung.
Ich wußte, dass das Christkind bereits Tage vor dem Heiligen Abend damit begann, die Weihnachtszimmer zu schmücken, damit es sich am Christabend nur noch um die Bescherung kümmern musste und nicht in Zeitdruck geriet. Angeblich lieferte es das eine oder andere Geschenk auch schon einige Tage früher an und legte es unter den Weihnachtsbaum. Zwar begleitete an Heiligabend eine nicht geringe Anzahl an Helferengeln das Christkind, doch häufig reichte selbst dieses gewaltige himmlische Heer nicht aus, um alle Gaben fristgerecht zu verteilen. Deshalb die vorzeitige Lieferung vorwiegend größerer und schwererer Geschenke.

Die verschlossene Tür zog mich magisch an. Wieder und wieder schlich ich in den Flur, in der Hoffnung, das Christkind dabei zu ertappen, wie es ins Zimmer huschte. Fehlanzeige. Ab und an drückte ich mein Ohr ans Türblatt. Vielleicht war ja ein Geräusch zu hören, das Rückschlüsse auf die aktuelle Tätigkeit zuließ? Das Klirren einer heruntergefallenen Kugel etwa, oder das leise Klingeln eines Glöckchens?
Negativ.
Durchs Schlüsselloch zu lugen, hätte ich jedoch niemals gewagt, wusste ich doch, dass das Christkind furchtbar böse wurde, wenn man ein Weihnachtsgeschenk vorzeitig sah. So böse, dass es das Geschenk kurzerhand wieder mitnahm, um das neugierige Kind nachhaltig zu bestrafen. Und da ich am Weihnachtsabend keinesfalls leer ausgehen wollte, war ich ganz entschieden hart gegen mich selbst.
Jedenfalls am 22. Dezember.
Bereits am Vormittag des 23.12. hielt ich es nicht mehr aus. Schließlich war ich noch nicht einmal vier Jahre alt. Da hatte man sich noch nicht so sehr unter Kontrolle. Ich riskierte einen Blick.
Das Schlüsselloch war von innen verklebt.
„Das Christkind hat für solche Fälle vorgesorgt“, sagte mein Vater mit harter Stimme hinter meinem Rücken. „Und übrigens – es hasst nichts mehr als neugierige Kinder.“
Ich war noch klein. Dennoch wünschte ich mir in diesem Moment vor Scham, der Boden möge sich auftun und mich verschlucken. Ich drehte mich um. Vater sagte nichts weiter, doch sein Blick drückte grenzenlose Verachtung aus. Dann ging er weg und ließ mich allein im Flur zurück.
Um nichts in der Welt hätte ich nun nochmals versucht, durchs Schlüsselloch zu gucken.
Das war auch gar nicht nötig, denn als ich nachmittags mein Zimmer verließ, um in die Küche zu gehen, sah ich, dass die verbotene Tür einen Spalt breit offen stand. Es war nur ein winziger Spalt. Aber sie war offen.
Das Christkind war da.
Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, setzte mein Gehirn einfach aus.
Weg waren alle guten Vorsätze, die Erinnerung an den verächtlichen Blick meines Vaters, sowie die Angst, das Christkind könnte ein bereits gebrachtes Geschenk wieder mitnehmen.
Ich blickte ins Zimmer.
Mir bot sich nur ein winzig kleiner Ausschnitt, doch bereits dieser war überwältigend. Da stand der Christbaum, riesengroß, und das war nicht nur ein subjektiver Eindruck, weil ich selbst so klein war. Er war objektiv gigantisch und reichte mit seinen weit ausladenden Ästen bis zur stuckgeschmückten Decke, die in unserer damaligen Altbauwohnung an die drei Meter fünfzig hoch war. Bunte Kugeln hingen daran, kleine Figuren, silbern glänzende Vögel mit regenbogenfarbenen Federn auf dem Kopf, und – mein Gott – was war das? Dort, am Boden, halb versteckt unter buschigen Zweigen?
Eine Puppenküche.
Nein. Falsch. Nicht irgendeine. D i e Puppenküche. Die heiß ersehnte, wunder- wunderschöne, die seit Wochen im Schaufenster meines Stamm – Spielwarenladens von mir bestaunt und bewundert worden war.
Nun war sie hier. In unserem Wohnzimmer. Unterm Weihnachtsbaum. Grüngemusterte Tapeten, winzige Lampen an den Wänden, ein Herd, ein Buffet, ein Tisch, gedeckt mit kleinem Porzellangeschirr, um den fünf Stühle standen, und…
In diesem Augenblick wurde mir bewusst, was ich getan hatte. Vor lauter Bestürzung hielt ich die Luft an. Ich hatte ein Geschenk vorzeitig gesehen. Ach nein – nicht ein Geschenk. DAS Geschenk, vor dem alles andere verblasste.
Ich spürte einen Luftzug, hörte ein leises Geräusch.
Entsetzt fuhr ich herum.
Nichts.
Auf Zehenspitzen schlich ich in mein Zimmer. Den Rest des Tages verbrachte ich in purer Verzweiflung. Dieses Weihnachtsfest war gelaufen. Das Christkind würde mich bestrafen und die Puppenküche wieder mitnehmen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Vor meinen Eltern riss ich mich zusammen. Hätte ich ihnen etwa sagen sollen, was ich getan hatte? Es reichte mir schon, dass das Christkind mich für mein Vergehen bestrafen würde.
Erst abends, im Dunkeln, in der Einsamkeit meines Zimmers, ließ ich meinen heißen Tränen freien Lauf. Irgendwann, weit nach Mitternacht, weinte ich mich in einen schrecklichen Alptraum, in dem ich das Christkind mit meiner Puppenküche unterm Arm durchs Fenster nach draußen fliegen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden sah.

24. Dezember 1963. 19 Uhr. Bescherung.
Ein riesiger Weihnachtsbaum, dessen Zweige sich unter der Last bunten Baumbehangs und silbern glänzenden Lamettas bogen; der mattgelbe Lichtschein süß duftender Honigkerzen im Dunkel des Raums; leise Weihnachtsmusik aus dem Radio – ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all; Funken sprühende Wunderkerzen, die an einem festlich geschmückten Zweig hingen, der sich in der chinesischen Bodenvase unter dem Fenster befand.
Und Geschenke.
Jede Menge Geschenke. Eine Puppe, ein Stoffaffe mit lustigem, blaugrünem Ringelpulli, ein kleines, feuerrotes Telefon, ein bunter Kreisel, diverse hübsch verpackte Pakete.
Und eine Puppenküche. Dort, am Boden, halb versteckt unter buschigen Zweigen.
Ich sah genauer hin. Mein Herz blieb stehen.
Die Küche war nett. Kleingemusterte, blaue Tapete, ein Herd mit zwei Töpfen darauf, ein Tisch mit zwei Stühlen. Das war`s.
Wahrscheinlich war dies das erste Mal in meinem jungen Leben, dass ich mich diplomatisch verhielt. Schweren Herzens heuchelte ich größte Begeisterung für meine neue Puppenküche. Schließlich konnte ich mich ja schlecht bei meinen Eltern darüber beklagen, dass das Christkind wegen meiner Neugierde die wunderschöne Küche aus dem Spielwarenladen gegen dieses schlichte, schlecht ausgestattete Ding ausgetauscht hatte. Das hätte nur Ärger gegeben, weil die Eltern, wie ich stark vermutete, zum Christkind hielten.

Dieses Erlebnis bewirkte, dass ich künftig zum einen ganz furchtbar mit dem Christkind haderte, und zum anderen nicht mehr auf die Suche nach versteckten Weihnachtsgeschenken ging.

Erst Jahre später, als ich nicht mehr an das Christkind glaubte, wurde mir klar, dass ich nicht die Puppenküche aus dem Schaufenster unterm Weihnachtsbaum gesehen hatte. Schließlich war die nur ein unverkäufliches Ausstellungsstück gewesen.
Es war lediglich meine kindliche Phantasie gewesen, die mir einen üblen Streich gespielt hatte.
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